Beziehungen zwischen Autor – Text und Leser in Kollektiven Schreibprojekten; eine Frage der Perspektive?
von Alexander Klement
1 Einleitung
Für meine Kollegin Sandra Hochstöger ist „die partizipative Literaturkonstruktion […] die Versinnbildlichung der aktiven Rezeption“ (Hochstöger 2013: Kapitel 2) im Sinne der Rezeptionsästhetik nach Hans Robert Jauß.
In diesem Sinne gehe ich der Frage nach der Doppelfigur von «Autor/Leser» (Hartling 2009: 106) und ihrer Beziehung zum Text nach. Durch den Rollenwechsel, den der Internetbenutzer vollzieht, stellt sich die Frage, ob der Leser – wenn er sich denn als Autor am Projekt beteiligt – die Rolle des Lesers vorübergehend abstreift und gänzlich die des Autors übernimmt. Bleibt er Autor und Leser zugleich? Kann der Leser, wenn er erst einmal den Text als Autor betrachtet hat, sich überhaupt wieder gänzlich davon lösen und wieder die Perspektive des Lesers einnehmen?
2 Begriffsdefinitionen
Zuerst muss hier kurz erläutert werden anhand welcher Definitionen sich der Artikel orientiert um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen. Die wichtigsten Begriffe werden hier kurz besprochen. Der Begriff «Autor» wird hier in Bezug zur «kollaborativen» oder «kollektiven Autorschaft», wie sie Paisly Livingston definiert hat, verwendet. Demnach bezeichnet kollaborative Autorschaft „[…] eine Zusammenarbeit von mehr als einer Person, bei der das Ziel die gemeinsame Herstellung […] eines Werkes bildet.“ (Hartling 2009: 38) Wichtig hierbei ist, dass für Livingston auch diese Bedingung erfüllt sein kann, wenn nur Teile des Werkes einzelnen Mitwirkenden zugeschrieben werden. Das würde also auf kollektive Schreibprojekte zutreffen, wie man im Unterkapitel zu Mitschreibprojekten erkennen kann.
In diesem Artikel wird davon ausgegangen, dass der Leser eine konstitutive Funktion für Literatur hat. Ganz im Sinne Hans Robert Jauß‘ wird davon ausgegangen, dass der Leser ist aktiv am Werk beteiligt ist (vgl. Jauß 1970:169). Wolfgang Iser meint hierzu, dass der Text „[…] erst durch die Konstitutionsleistung eines ihn rezipierenden Bewußtseins zu seiner Gegebenheit“ (Iser 1979: 253) gelangt.
«Werk» ist hier ebenfalls im Sinne Wolfgang Isers zu verstehen, der das Werk in seinem eigentlichen Charakter als einen sich im Lesevorgang entfaltenden Prozess sieht. Dieser wird durch den Konstitutionsvorgang im Bewusstsein des Lesers ausgelöst. (vgl. Iser 1979: 253) Somit ist „das Werk […] das Konstituertsein des Textes im Bewußtsein des Lesers“. (Iser 1979: 253)
3 Mitschreibprojekte im Internet
Roberto Simanowski unterscheidet bei aller Vielfalt von kollaborativen Schreibprojekten drei Hauptgruppen: 1. Die Autoren schreiben an einer linearen, oder 2. an den verschiedenen Zweigen einer multilinearen Geschichte. 3. Eine Textsammlung wird mit von einander mehr oder minder unabhängigen Beiträgen der Autoren bestückt, welche zum Beispiel durch ein bestimmtes Element miteinander verbunden sein können. (vgl. Simanowski 2002: 35f)
Simanowski untersuchte das Schreibprojekt «Beim Bäcker» und stellte für Mitschreibprojekte fest, dass die Möglichkeiten von Aneignung und Umwandlung durch neue Autoren doch begrenzt seinen, denn „Schreiben ist Sinngebung, Sinngebung ist Okkupation“. (Simanowski 2002: 33) Autoren könnten aber auch neue Personen mitbringen, welche es einerseits ermöglichen das Geschehene aus einer anderen Perspektive zu deuten, andererseits neue Möglichkeiten der Beschreibung liefern. Auch versuchen die Autoren ihre eigene Anwesenheit über die Zeit des eigenen Erzählens hinaus in Texte ihrer Nachfolger zu verlängern, indem sie neue Handlungen ankündigen. Allerdings funktioniere dies meistens nicht, da der nächste Autor sich ja frei entscheiden könne an was er anknüpft. So werden bisherige Informationen umgedeutet, ignoriert oder in den eigenen Text integriert. Je weiter so eine Geschichte voranschreitet, desto wichtiger werde laut Simanowski die Frage der Verwaltung. Jedoch sei die Bereitschaft sich auf diese Verwaltung einzulassen unterschiedlich stark ausgeprägt. Mahnungen würden sich als relativ wirkungslos erweisen, denn die Demokratie des Schreibverfahrens verhindere das Gelingen des Projektes. „Das Ende [der Geschichte] öffentlich auszurufen ist Aufgabe des letzten Autors. Da der Text keinem gehört, kann keiner wirklich diese Aufgabe übernehmen. So lebt der Text vor sich hin, bis ihn die Moderatorin oder der Rezensent abschließt.“ (Simanowski 2002: 33)
Simanowski stellt weiters für Mitschreibprojekte fest, dass nicht etwa aus ästhetischen Gründen interessant seien, sondern wegen dem was sie den Lesern über ihre Autoren erzählen. Er bezieht sich hierbei wieder auf das Mitschreibprojekt «Beim Bäcker» und kommt bei seinen Beobachtungen zum Schluss, dass Kollektivgeschichten wie diese vor allem wegen ihrer sozialen Ästhetik spannend seien (vgl. Simanowski 2002: 34).
Somit lässt sich zusammenfassend sagen, dass bei kollektiven Schreibprojekten Autorschaft nicht mehr aus einem Individuum besteht. Die Tatsache, dass jeder Leser eingeladen ist sich am Entstehungsprozess zu beteiligen, scheint die traditionelle Beziehung zwischen Autor und Leser zu negieren. Kollaborative Schreibprojekte nutzen das Internet nicht nur zur Publikation und Distribution, sondern auch als Kommunikations- und Interaktionsmedium. Kollaborative Autorenschaft bewegt sich bei kollektiven Schreibprojekten in einem bestimmten Rahmen mit ungleichem Kräfteverhältnis. Vom Moderator oder Initiator wird eine Grundkonzeption vorgegeben, bevor angefangen wird am Text zu arbeiten (vgl. Hartling 2009: 266f).
5 Text – Autor/Leser
Kurt Fendt meint, in literarischen Texten sei die Freiheit des Lesers „[…] kunstvoll konstruiertes Kalkül des Autors“ (Fendt 2001: 98), welches den Rahmen eines dialogischen Spiels zwischen Text und Leser festlege. Im Konzept des Hypertextes käme dem Leser in seinem rezeptiven und produktiven Aspekten dann eine weniger scharf umrissene Rolle zu, und der Leser wird explizit an der Sinnkonstruktion beteiligt. Fendt zeigt in seinem Artikel zu Hypertext und seinen literarisch-ästhetischen Vorbildern anhand einiger Beispiele, wie neue Lesehaltungen provoziert werden, die Leser herausfordern an der Sinnkonstruktion mitzuarbeiten. Fendt stellt abschließend die Frage, ob der Leser zum Mitautor wird (Fendt 2001: 89, 91, 98). Spätestens auf Mitschreibeprojekte bezogen kann diese Frage wörtlich übernommen werden. Und zwar nicht einfach nur in der nichtlinearen Anordnung der Teile des Hypertextes und „[…] in der Aufforderung an den Leser, diese selbst zusammenzustellen“ (Simanowski 2001: 6), sondern der Leser als wirklicher Mitautor, beziehungsweise Autor. „Die wirkliche Befreiung des Lesers findet nicht im Hypertext statt, sondern in den Mitschreibprojekten, die wirkliche Schwächung des Autors in den digitalen Spielformen der kombinatorischen und aleatorischen Dichtung.“ (Simanowski 2001: 11)
Mitschreibprojekte sind prozessorientiert angelegt und leben vom ständigen Rollentausch von Leser und Autor. (vgl. Simanowski 2002: 42) „Die Wandlung des Lesers in den Autor ist das konstituierende Moment dieser speziellen Form der Interfictions.“ (Simanowski 2002: 35)
In Anlehnung an den Begriff der «bidirektionalen Schnittstelle» nach Michael Wetzel (vgl. Hartling 2009:106ff), mit dem er sich von festen Autorschaftskonzepten entfernt, wird eine neue Sichtweise auf Mitschreibprojekte und die daran beteiligten Instanzen eröffnet. Auch wenn Wetzel sich ausdrücklich nur auf technische Aspekte beim Konzept der bidirektionalen Schnittstelle bezieht (vgl. Hartling 2009: 107), so wird auch die Doppelfigur von «Autor / Leser» (vgl. Hartling 2009: 106) berücksichtigt. Es geht nicht nur um die Interaktion von Benutzer und Software, sondern ganz besonders um Interaktion zwischen den einzelnen Usern untereinander. Die Benutzer kommunizieren miteinander über den Text. „Unter dem Text liegt ein Text, der von den Autoren, von der Dynamik der Kommunikation im Netz handelt; die Autoren der offiziellen Geschichte sind die Figuren einer geheimen und schreiben im Schreiben an jener zugleich an dieser über sich selbst.“ (Simanowski 2002: 34)
Zuerst sind die Benutzer Leser, dann entschließen sie sich zum Autor zu werden – egal aus welchen Gründen – und am Ende reflektieren sie ihre eigene Arbeit im Kontext wieder als Leser. Nun stellt sich aber die Frage, ob er wieder gänzlich Leser ist, nachdem er sich zuvor in die Rolle des Autors begeben hat. Der Leser, der sich zum Autor transformiert, erlebt nicht mehr nur die Gedanken der Autoren (vgl. Iser 1979: 272f) vor ihm, er ist Autor, was ihm somit eine gänzlich andere Betrachtungsweise auf den Text ermöglicht. Wenn derselbe Leser einen Text anders aufnimmt, wenn er diesen mehrere Male ließt (vgl. Funke: 59) und somit„[…] jede Lektüre […] zu einer individuellen Aktualisierung des Textes“ (Iser 1979: 259) führt, so wird er ihn auch anders wahrnehmen, wenn er selbst am Entstehungsprozess teilgenommen hat. Das Werk im Sinne Isers entsteht immer wieder neu. Nicht zuletzt auch weil der Text sich stetig weiterentwickelt und nicht abgeschlossen ist. Wenn der Leser also einmal aus der Perspektive des Autors alles betrachtet hat, so wird es ihm schwerfallen sich von dieser Perspektive abzugrenzen. Er sieht, wie sich die Geschichte weiterentwickelt, gemäß seiner Vorgaben; oder auch nicht. Vielleicht fühlt er sich auch wieder dazu berufen erneut einzugreifen, aber seine Betrachtungsweise wird sich von Grund auf geändert haben, wenn er sich erneut in die Rolle des Autors begibt.
Der Leser bekommt ungeahnte Freiheiten, die er zuvor nie hatte. Er hat nun die Möglichkeit aktiv am Entstehungsprozess teilzunehmen. Er hat natürlich weiterhin die Wahl Leser oder Autor zu werden, doch allein die Freiheit dies zu entscheiden stellt den Leser auf eine neue Stufe. Jedoch wäre es zu früh, den Tod des Autors erneut auszurufen (vgl. Hochstöger 2013: Kapitel 4). Zwar wirkt dies in Bezug auf Mitschreibprojekte im ersten Moment als schlüssig, Leser und Autor sind aber dieselbe Person, was einen ganz anderen Schluss zulässt: AutorInnenzentrierte Literaturwisschenschaft mag obsolet sein, jedoch wird sich die Literaturwissenschaft in Zukunft stärker mit der bidirektionalen Schnittstelle des Autor/Leser auseinandersetzen müssen. Einzelne Textpassagen werden ja weiterhin bestimmten AutorInnen zugeschrieben und jeder dieser AutorInnen liest den Text aus seiner eigenen Perspektive und schafft sich bei jedem neuen Lesen, und nach jeder Weiterführung durch andere, ein neues Werk.
Die Rolle des Moderators wurde in diesem Artikel außen vor gelassen, ich halte aber fest, dass er als zusätzliche Schnittstelle zwischen Text und Autor und zwischen Text und Leser fungiert. Der Moderator kann in das Projekt eingreifen, was zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse führt. (vgl. Simanowski 2002: S36f) Somit kommt ihm in kollektiven Schreibprojekten die größte Macht zu. Oder hat tatsächlich der Leser das letzte Wort? (Fendt 2001: 98)
Bibliografie:
Fendt, Kurt: Leser auf Abewegen. Hypertext und seine literarisch-ästhetischen Vorbilder. In: Heinz Ludwig Arnold [Hrsg]: Text+Kritik (Heft 152, DIGITALE LITERATUR) Richard Boorberg Verlag, München (2001), 87-98.
Funke, Mandy: Rezeptionstheorie und Rezeptionsästhetik. Betrachtungen eines deutsch-deutschen Diskurses. Aisthesis Verlag, Bielefeld (2004).
Hartling, Florian: Der digitale Autor. Autorenschaft im Zeitalter des Internets. Transkript Verlag, Bielefeld (2009).
Hochstöger, Sandra: Digitale „Literatura Participativa“ und das Verständnis von Bedeutungskonstruktion. In: literatura 2.0, nuevas tendencias literarias a través de nuevas tecnologías, online unter <https://literaturadospuntocero.wordpress.com/2013/02/10/digitale-literatura-participativa-und-das-verstandnis-von-bedeutungskonstruktion/> (13.2.2013).
Iser, Wolfgang: Der Lesevorgang. In: Rainer Warning [Hrsg.]: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Wilhelm Fink Verlag, München (1979), 253-276.
Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation. Surkamp, Frankfurt am Main (1970).
Simanowski, Roberto: Autorenschaft in digitalen Medien. Eine Einleitung. In: Heinz Ludwig Arnold [Hrsg]: Text+Kritik (Heft 152, DIGITALE LITERATUR) Richard Boorberg Verlag, München (2001), 3-21.
Simanowski, Roberto: Interfictions. Vom Schreiben im Netz. Surkamp, Frankfurt am Main (2002).